Indian Gods Band 1 - Ganeshas Gunst

Leseprobe

 

Dichter Morgennebel glitt über das Wasser, das in kleinen Wellen gegen den Kai schlug. John ließ den Blick schweifen. Der Himmel hatte die Farbe von Tinte, die am Horizont über dem Wasser ein wenig ausblich, wo man die ersten Ausläufer des Sonnenaufgangs erahnen konnte. Bis die Sonne sich vollständig über den Dächern von Bristol erhob, würde es noch eine ganze Weile dauern. Ihre wärmenden Strahlen würde er erst erleben, wenn sie sich weit draußen auf offener See befanden, um Kurs auf Indien zu nehmen. Dort würde er gemeinsam mit seinem Regiment die nächsten Monate verbringen. 

Er war noch nie dort gewesen. Die Geschichten, die er gehört hatte, sprachen von einem Ort voller Wunder, voller fremdartiger Dinge, die es zu entdecken galt, und nicht zuletzt voller Gefahren. 

Der letzte Auslandseinsatz seines Regiments lag erst wenige Monate zurück. Bis in den Spätsommer des Jahres 1856 hinein hatte er sich auf der Krim aufgehalten, um an der Seite des Osmanischen Reiches gegen Russland zu kämpfen. Drei Jahre lang war er dort mit den anderen Mitgliedern des 97th Earl of Ulster’s Regiment of Foot stationiert gewesen, bevor man sie wieder nach Hause beordert hatte. Gerade, als er angefangen hatte, diese Ruhepause mit seiner Frau Sophie, ihrer Tochter Emily und seinen Freunden zu genießen, kam der nächste Einsatzbefehl. 

In Indien würden sie helfen, die Unruhen niederzuschlagen, die Anfang des Jahres 1857 überall auf dem Subkontinent ausgebrochen waren. Die Inder begannen, sich gegen die britische Besatzerherrschaft zu wehren. Das durfte man nicht zulassen. 

Johns Blick wanderte an dem Schiff entlang, das ablegebereit vor ihnen im Hafen lag. Seine Kameraden und er kannten die HMS Great Britain bereits. Sie hatte sie sicher in die Schlachten auf der Krim transportiert und würde ihnen jetzt auf die gleiche Weise erneut dienen. Er beobachtete Männer dabei, wie sie Ausrüstung und Gepäck an Bord trugen. Der Lärm auf dem Kai war ohrenbetäubend. Männer brüllten Befehle, Pferde wieherten, Menschen riefen durcheinander, ein Hund bellte, ein Kind weinte, Möwen flogen über sie hinweg und stießen dabei hohe, schrille Schreie aus. Es roch nach Brackwasser, Pferdemist und Holzfeuer. 

Allmählich breitete sich eine Art dumpfe Panik in Johns Brust aus. Er sollte zusammen mit den anderen drei Lieutenants seines Regiments auf dem Schiffsdeck stehen und Befehle brüllen. Oder sie entgegennehmen. Sein Blick schweifte erneut über den Pier, der zum Wasser hin von einem Zaun aus brusthohen, stabilen Eisenstreben gesichert wurde, und erfasste eine große, stämmige Gestalt in hellroter Uniformjacke, hellen Hosen und glänzend polierten schwarzen Stiefeln, wie er sie trug. Sein Vorgesetzter Major Jake Blackburn bellte Befehle und überwachte das Verladen der Ausrüstung. Anschließend würden die Männer an Bord gehen, angeleitet von seinen vier Lieutenants. Einhundertfünfundzwanzig Personen insgesamt, dazu noch einmal halb so viele Pferde. Und die Angehörigen derjenigen Soldaten, denen es gestattet worden war, ihre Familien mit auf diese Reise zu nehmen. 

John biss die Zähne zusammen und wandte sich um. Er zählte nicht zu diesen Glücklichen, und als er Sophie ins Gesicht schaute, wurde ihm übler, als es ihm ohnehin gewesen war. Er würde sie hier zurücklassen müssen, für ein, zwei oder drei Jahre, weil niemand von ihnen wusste, wie lange dieser Feldzug dauern würde. 

Sophie musterte ihn unter ihrem kleinen dunklen Hut heraus mit schiefgelegtem Kopf und einem ironischen Lächeln auf den Lippen, das John das Herz im Brustkorb herumdrehte. Plötzlich schienen sich die Nebelschwaden wie eine riesige Hand um ihn zu schließen. 

„Bist du nervös?“, wollte sie wissen. 

„Wärst du nicht nervös, wenn du in den Krieg ziehen müsstest? Entgegen der landläufigen Meinung wird diese Tätigkeit auf keinen Fall einfacher, je öfter man sie ausführt“, erwiderte John mit einem halben Lächeln. 

Wie gern hätte er sie bei der Hand genommen und wäre mit ihr auf das Schiff gegangen. Hätte sie mitgenommen und gemeinsam mit ihr die Wunder dieses fremden Ortes erkundet. Aber das durfte er nicht. Es gab eine festgesetzte Obergrenze an erlaubten Begleitpersonen, die sich nach der Truppengröße richtete, und diese war für ihr Regiment bereits erreicht. 

„Vermutlich wäre ich das, ja. Vor allem, wenn man bedenkt, was beim letzten Mal passiert ist“, murmelte Sophie und John verspürte augenblicklich einen tiefen Stich der Schuld. 

Er erinnerte sich nicht nur deswegen ungern an den Krimkrieg, weil es ein Krieg und er lange von seiner Familie getrennt gewesen war, sondern auch, weil damals sein zwei Jahre älterer Bruder Osmond verschwunden war. Er hatte gemeinsam mit sechshundert anderen Reitern mehrerer Kavallerieeinheiten einen Angriff in einer Senke führen sollen. Die Reiterei war von russischen Truppen, die sich in den umliegenden Hügeln versteckt gehalten hatten, eingekreist und niedergemacht worden. 

John hatte davon auf dem Schlachtfeld erfahren und weigerte sich seitdem, zu glauben, Osmond wäre tot, selbst wenn alle Berichte Anderes vermuten ließen. Niemand hatte seine Leiche gefunden, oder? Also konnte es sein, dass … 

So sehr sein Umfeld versucht hatte, ihn zu überzeugen, John blieb dabei. Er würde wissen, ob sein Bruder tot war oder nicht. 

„Hast du Blackburn noch einmal gefragt?“, wollte John wissen. 

Er hatte sie irgendwann einmal kurz in der Kommandantur im Hampton Court Palace gesehen und sich denken können, was sie dort gewollt hatte. Seit John aus dem Krimkrieg zuhause war, gab es in der Familie Sterling fast kein anderes Thema mehr. Sie wollten erfahren, was mit Osmond geschehen war, aber John war bei seinen Nachforschungen auf eine Mauer des Schweigens gestoßen. Man hatte ihn nicht einmal zu Lieutenant-Colonel Benson, dem Kommandanten der 17th Lancers, lassen wollen, damit er mehr über Osmonds Verbleib herausfände. Schließlich hatten Sophie und er sich darauf geeinigt, dass sie es versuchen sollte. Bei John wusste man, dass er Mitglied der Armee war. Er hatte gehofft, sie wären bei einer Frau weniger misstrauisch. Freigiebiger mit Informationen. Sophie war zuversichtlich gewesen, aus Blackburn etwas herauszubekommen. Doch jetzt schüttelte sie missmutig den Kopf. 

„Gefragt habe ich ihn, aber er hat mich abgewiesen. Er hat mich grob aus seinem Büro geschoben und gesagt, es ginge mich nichts an. Kannst du dir das vorstellen? Es ginge mich nichts an, wenn mein Schwager spurlos verschwindet.“ 

John kaute auf seiner Unterlippe herum, während er seinem Vorgesetzten einen Blick zuwarf. Diese hatte inzwischen den Helm abgenommen, sodass ein akkurat gestutzter, schwarzgrauer Haarschopf zum Vorschein kam. Seinem Adlerblick entging nichts und niemand wagte es, unter diesem Blick im falschen Moment zu niesen. 

„Bitte versprich mir, dass du es weiterhin versuchst. Jetzt, wo Blackburn anderweitig beschäftigt ist, hast du eher die Möglichkeit, etwas zu erreichen“, bat John eindringlich, aber leise, damit die Umstehenden nicht allzu viel von diesem Gespräch mitbekamen. 

Sophie nickte und schaute dann selbstironisch über die Reihe von Frauen und Kindern, die am Rand des Piers bei ihrem Gepäck standen, als warteten sie darauf, ebenso wie dieses verladen zu werden. John folgte ihrem Blick und sah eine hochgewachsene, schlanke Frau mit rotbraunen Locken, die sie ordentlich unter einem Hut zusammengenommen hatte. Sie kniete neben einem Jungen, der ungefähr in Emilys Alter war, also sechs oder ein wenig älter, und redete eindringlich auf ihn ein. Daneben stand eine weitere Frau, die aussah wie eine Gouvernante. 

Zu spät fiel John ein, dass er sich um ein Hausmädchen oder eine Gouvernante für Emily hatte kümmern wollen, nachdem sie dem letzten Hausmädchen hatten kündigen müssen, weil es beim Verlassen des Hauses mit einer Handvoll silberner Löffel in seinem Regenschirm erwischt worden war, aber in den letzten Monaten war seine ganze Energie in die Suche nach Osmond geflossen. 

„Arme Sarah“, kommentierte Sophie mit einem Blick auf die Rothaarige, die sich wieder aufrichtete und sich dann umdrehte, um nach dem Gepäck zu sehen und jemandem Anweisungen zu geben. „Ich beneide sie und den kleinen Patrick nicht darum, euch begleiten zu dürfen. Es wäre zwar schön gewesen, wenn Blackburn dir erlaubt hätte, mich und Emily mitzunehmen, weil wir dann in deiner Nähe gewesen wären, aber … in Indien ist es furchtbar heiß, habe ich gehört. Und sicher gibt es dort merkwürdige Krabbeltiere. Nein, danke.“ 

Mit einem Schmunzeln musste John an ein Erlebnis denken, das eine ganze Weile zurücklag. Damals waren sie, unmittelbar nach ihrer Hochzeit, neu in das kleine Reihenhaus im Londoner West End eingezogen und Sophie hatte irgendetwas in der Küche gemacht, während er im Schlafzimmer am Schreibtisch gesessen und gezeichnet hatte. Im nächsten Augenblick hatte ein spitzer Schrei die ganze Nachbarschaft erschüttert, als eine handtellergroße Spinne unter der Anrichte hervorgekrochen war. Als er in die Küche hastete, stand Sophie mit einem Besen bewaffnet auf einem Schemel und flehte ihn an, sie von dem Monster zu erlösen, was er nur zu gern getan hatte. Sie hatte nicht hinsehen können, als er das kleine Tier auf die Hand genommen und nach draußen getragen hatte. 

Sie seufzte. „Nun, es ist nicht mehr zu ändern. Wir beide bleiben hier und halten die Stellung, und du kommst gefälligst in einem Stück wieder nach Hause“, ermahnte sie John mit gespieltem Ernst, bevor sie sich für einen flüchtigen Kuss auf die Zehenspitzen stellte. 

„Zu Befehl, Ma’am“, erwiderte John und nahm den schwarzen Helm vom Kopf, um eine Verneigung anzudeuten, bevor er ihn wieder auf den kurzen, blonden Haaren absetzte. 

Von Seiten des Schiffes ertönte ein Pfiff. 

„Du solltest dich beeilen, sie fangen an, die Soldaten aufs Schiff zu bringen“, murmelte Sophie. 

„Bis meine Einheit dran ist, dauert es ein bisschen. Zuerst sind Charlie und Will mit ihren Männern dran, dann ich, und dann darf Callan seine Leute an Bord bringen.“ 

John beugte sich für einen weiteren Kuss zu Sophie hinunter, dann ging er in die Knie, um auf Augenhöhe mit seiner sechsjährigen Tochter Emily zu sein, die ihn mit kritischer Miene musterte. Sie trug ein geblümtes Kleid und dunkle Stiefel und hielt sich mit einer Hand an Sophies Hand fest, um im anhaltenden Gedränge der hunderten von Menschen um sie herum nicht verloren zu gehen. 

„Ist Indien weit weg?“, wollte sie wissen und schaute ihren Vater aus ernsten grünen Augen an, ein Blick, bei dem ihm das Herz schwer wurde. Er war zu oft zu lange fort gewesen und hatte verdammt viele Dinge im Leben seiner Tochter verpasst. Und nun würde er noch mehr verpassen. 

„Sehr weit. Man muss lange mit dem Schiff fahren, bis man dort ist, weißt du?“, erklärte John und zeigte zurück zu dem flach gebauten Schiff mit seinem schwarz-golden lackierten Rumpf und den acht Masten, an denen bald die Segel gesetzt werden würden. 

„Mit dem Schiff da fahren wir. Damit bin ich schon einmal gefahren, als ich nach Russland musste.“ 

Zugegeben, es war zu lange her, als dass Emily sich daran erinnern konnte. Als Sophie ihn das letzte Mal hier an diesem Pier verabschiedet hatte, war Emily zwei Jahre alt gewesen und anschließend hatte sie ihren Vater für fast vier Jahre nicht wieder gesehen. John biss die Zähne zusammen. Es war nicht zu ändern, er wusste das. Er wusste, dass ihm das niemand vorwarf. Niemand, abgesehen von ihm selbst. 

„Kommst du bald wieder?“, fragte Emily da, wie um ihm den Stachel tiefer ins Fleisch zu treiben. 

John versuchte sich an einem zuversichtlichen Lächeln. Emily mochte er damit täuschen können, aber Sophie nicht. Er sah es an ihrer hochgezogenen Augenbraue. 

„Du wirst nicht merken, dass ich weg bin, versprochen.“ 

Das schien sie zu überzeugen, denn sie lächelte, was eine Zahnlücke im Unterkiefer enthüllte, die in den nächsten Wochen durch einen nachwachsenden Zahn verschwinden würde. 

„Bringst du mir etwas Schönes mit?“, fragte sie. 

John lächelte, als er sie in die Arme schloss. Am liebsten hätte er ihren kleinen Körper nie wieder losgelassen. „Wenn ich etwas finde und du versprichst, ein artiges Mädchen zu sein, bringe ich deiner Mutter und dir etwas mit, versprochen.“ 

Er ließ Emily los und erhob sich wieder, um Sophie zuzulächeln, die diese Geste erwiderte. 

Um sie herum setzte sich der erste Trupp Männer in Bewegung. John hatte den Befehl über dreißig Soldaten. Für viele von ihnen war es der erste Auslandseinsatz, andere von ihnen hatten mit ihm und den anderen im Krimkrieg gedient. 

„Tja, dann … bleiben uns jetzt wohl nur noch Briefe“, murmelte er und schluckte um den Kloß herum, der sich in seiner Kehle bildete und nicht verschwinden wollte. 

Sophie nickte. „Ja, es scheint so. Pass auf dich auf, hast du gehört? Stell keinen Unsinn an. Und sorg dafür, dass die anderen drei es auch nicht tun“, murmelte sie, während sie imaginäre Falten auf den Schultern seiner Uniformjacke glattstrich und seinen Hemdkragen geraderückte. 

„Sterling!“, knallte Blackburns Stimme über den Pier wie ein Pistolenschuss. 

John verdrehte die Augen und murmelte eine unterdrückte Verwünschung. 

„Unterwegs, Sir!“, bellte er zurück, bevor er sich für einen letzten Kuss zu Sophie hinunterbeugte, der einen winzigen Moment länger dauerte als die beiden davor. 

Dann wandte er sich ruckartig ab und marschierte zu seiner Truppe zurück, um das Schiff zu betreten, das ihn nach Indien bringen würde. 

Als er kurz darauf an der Reling stand und beobachtete, wie die übrigen Soldaten, Frauen und Kinder das Schiff betraten und der Pier sich langsam leerte, sah er etwas, das ihn stutzen ließ. Blackburn hatte das Schiff nicht zusammen mit ihnen betreten, sondern war noch einmal zurückgegangen. Nun stand er bei Sophie und Emily und unterhielt sich mit Ersterer. Es schien ein hitziges Gespräch zu sein, denn Sophie schüttelte mehrfach energisch den Kopf und wich zurück, als Blackburn sie am Arm packen wollte. John war drauf und dran, die Gangway wieder hinunterzusteigen, um sich davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung war, da wandte Blackburn sich um und betrat das Schiff. Stirnrunzelnd betrachtete John die Szenerie, auf die er sich keinen Reim machen konnte, einen Moment länger. 

Aus seinen Gedanken gerissen wurde er erst, als ihn jemand am Arm packte. 

„Komm, die anderen warten, und wenn du dich nicht beeilst, besetzen Callan und Will die beiden oberen Etagenbetten in unserer Kabine und das war es dann mit dem Spaß auf dieser Reise.“ 

John gab dem Zug des Armes nach und fand sich Auge in Auge mit seinem besten Freund Charlie wieder, der ihn angrinste. Mit einem belustigten Schnauben folgte John seinem Freund aus Kindertagen, die merkwürdige Beobachtung für einen Moment vergessend. 

Es würde sein, wie er es Emily gesagt hatte. Sie würden in Indien für Ordnung sorgen, und dann wäre er im Nullkommanichts wieder zuhause. 


 

 

Gedämpft drangen gebrüllte Befehle an sein Ohr. Stiefel stampften über Metall. Das Knarren von Eisen hörte er so deutlich wie seinen eigenen Herzschlag. Sie stiegen die schmale Metalltreppe ins Innere des Schiffes hinunter und John folgte Charlie durch die vertrauten, schmalen Gänge, die breit genug waren, dass ein Mann durch sie hindurchlaufen konnte. Kam einem jemand entgegen, musste man sich flach an die Wand drücken, bis die andere Person an einem vorbeigegangen war. 

Schließlich hielten sie vor einer Tür an, die Charlie aufstieß. John nahm den schweren Seesack von der Schulter, nachdem er seinem Freund in den Raum gefolgt war. Die Kajüte war groß genug für zwei Etagenbetten aus rostigem, ehemals grau angestrichenem Metall. Dazwischen verlief ein schmaler Gang, in den Licht durch ein rundes Fenster fiel. Hinter der Tür, gegenüber des Fensters, standen ein Schreibtisch samt Stuhl und Schreibutensilien sowie eine Öllampe. Sein Seesack flog in die Ecke, in der sich die drei von Charlie, Will und Callan stapelten, dann sah er zu den Betten. Die beiden oberen waren beansprucht worden, denn auf dem linken saß Will mit baumelnden Beinen und durchgedrückten Armen und grinste ihn an. Eine Strähne seiner halblangen, hellblonden Haare fiel ihm in die blauen Augen, als er sich vorbeugte, um besser sehen zu können, wer da durch die Tür kam. Er hob die Hand, um John zuwinken und sich danach die Haare aus dem Gesicht streichen zu können. 

John warf einen Blick zu Callan, der sich auf dem anderen Etagenbett ausgestreckt hatte. Ein Bein baumelte über die Bettkante, einer seiner Arme lag quer über seinem Gesicht und brachte Unordnung in die kinnlangen, dunklen Haare. John zupfte an Callans Fuß, als er zu dem unteren Bett ging und sich darauf fallen ließ. Charlie kramte in seinem Seesack herum und wandte ihnen den Rücken zu. 

„Wer hat entschieden, dass ihr beide oben schlaft?“, fragte John und sah Will gespielt empört an. 

„Wer zuerst kommt und so, du kennst das Spiel ja“, erwiderte der und beobachtete ihn amüsiert. 

John schüttelte mit einem Schnauben den Kopf. 

„Also, Indien, ja?“, fragte er dann in die Runde, drehte sich auf die Seite und zog die Beine an. 

Das Bettzeug kam ihm klamm vor, als er mit der Hand darüberstrich, aber wenn sie Glück hatten, würden sie nicht allzu viel Zeit hier verbringen. Zwei bis drei Wochen sollte die Überfahrt dauern. Ihr Schiff würde den Hafen von Kalkutta an der Südostküste Indiens anlaufen, anschließend würden sie mit dem Zug bis zu der Garnison in der Nähe eines kleinen Dorfes namens Rura fahren. 

Charlie hörte auf, in seinem Seesack zu kramen, und setzte sich auf das Bett gegenüber von John, bevor er nickte. „Ja. Ich bin gespannt, wie es dort ist. Und ob die Unruhen wirklich so schlimm sind, wie uns berichtet wurde. In Meerut sollen sie vor ein paar Wochen die meuternden Angehörigen eines Sikh-Regiments entwaffnet und anschließend hingerichtet haben, nachdem sie sich geweigert hatten, die Enfield-Gewehre zu verwenden, mit denen die Armee uns alle Ende letzten Jahres ausgerüstet hat. Wir waren auf einer Demonstrationsübung, wisst ihr noch?“, fragte Charlie in die Runde. 

John schaute zur Seite und sah Will leicht nicken, während er sich gleichzeitig auf die Unterlippe biss. Man hatte ihnen erklärt, die Patronenhülsen aus Papier, in denen die Kugel und das Schießpulver steckten, seien mit tierischem Fett eingerieben worden. Um die Waffe zu laden, war es nötig, die Papierhülse aufzubeißen und anschließend Schießpulver und Kugel in den Lauf des Gewehres zu streuen. Für die Hindus, für die Kühe heilige Tiere waren, und die Muslime, die Schweine als unreine Tiere betrachteten, stellte es eine massive Beleidigung dar, sie zu zwingen, diese Patronen zu verwenden. Aber sie hatten keine andere Wahl. Das Vorgängermodell der Enfield-Gewehre, die sie ab jetzt verwenden würden, war ausgemustert worden. Sie würden sich daran gewöhnen müssen, dass die Dinge von jetzt an anders liefen, als sie es gewohnt waren. 

„Seitdem verbreiten sich die Unruhen im ganzen Land. In Kanpur, der Stadt, vor der unsere neue Garnison liegt, soll es noch verhältnismäßig ruhig zugehen. Es gibt vereinzelte Unruhen, die der Fürst der Stadt bisher ganz gut kontrollieren kann. Falls es schlimmer wird, sind wir ja da, um ihn zu unterstützen“, warf Callan ein und zog das herunterbaumelnde Bein auf sein Bett. 

Mit einem Mal ging eine Vibration durch das Schiff. Als John den Kopf hob und aus dem Fenster schaute, sah er, dass sie sich vom Landungssteg entfernten. Mit einem sinkenden Gefühl in der Brust wurde ihm bewusst, dass er seine Familie eine lange Zeit nicht wiedersehen würde. Niemand konnte ihm sagen, wie lange dieser Feldzug dauern würde. Im Krimkrieg hatten sie gedacht, sie würden maximal ein paar Wochen fort sein. Am Ende waren daraus fast vier Jahre geworden. Niemand würde ihm garantieren können, dass es hier nicht genauso ablief. Bevor er sich mehr Gedanken darüber machen konnte, erklang zweimal der volltönende Schlag einer Glocke. Sie schwangen sich aus ihren Betten und verließen die Kabine nacheinander, um zu sehen, was Blackburn ihnen beim Appell mitteilen würde. 

 

 

In dieser Nacht fingen die Träume an. Zuerst waren sie auf eine diffuse Art verwirrend. Nicht genug, um John hinterher wissen zu lassen, was er geträumt hatte, aber so eindrücklich, dass er mehrfach in der Nacht verwirrt hochschreckte und sich panisch umschaute. Aber da war nichts. Kein verräterischer Schatten in irgendeiner dunklen Ecke ihrer Kajüte, niemand, der sich plötzlich über ihn beugte, während er schlief. Noch dazu schien er der Einzige aus ihrer Gruppe zu sein, der schlecht schlief. Zumindest gemessen an dem sägenden Schnarchen, das aus zwei von drei Betten ertönte. Charlie schlief seelenruhig, drehte sich von einer Seite auf die andere, schob den Arm unter das Kopfkissen und glitt wieder in eine tiefere Schlafphase. John blieb jedes Mal noch einen Moment liegen und zählte die Streben des metallenen Lattenrostes von Callans Bett, bevor er wieder einschlief. Am nächsten Morgen konnte er sich nicht mehr daran erinnern, was ihn mitten in der Nacht aus dem Schlaf hatte schrecken lassen. Erst hinterher wurde ihm bewusst, dass die Träume in den folgenden Nächten intensiver geworden waren. Es schien, als gewännen die Träume an Kraft und Deutlichkeit, je näher sie Indien kamen. Gleichzeitig wurde es danach immer schwieriger, wieder einzuschlafen. 

Der harte Dienst an Deck tat sein Übriges, dass John irgendwann wartete, bis seine drei Kameraden eingeschlafen waren, ehe er sich an den Schreibtisch setzte, um weitere Briefe aufzusetzen. Seine einzige Begleitung dabei war die Öllampe, die im stetigen Rollen des Schiffsrumpfes flackerndes Licht spendete. Er schrieb an Sophie und Emily, wie sehr er sie vermisste, vom Leben auf dem Schiff und von den Orten, an denen sie Station gemacht hatten, ehe die Reise weiterging. Er schickte einen Brief an seine Eltern und fragte nach dem Verbleib von Osmond und ob es seinem Vater möglich wäre, mehr darüber in Erfahrung zu bringen. Johns Vater Harper Sterling hatte viele Jahre in der British Army gedient, bevor ihn eine verirrte Kugel in den Oberschenkel getroffen hatte. Er war aus dem aktiven Dienst ausgeschieden und lebte mit Johns Mutter Judith und ein paar Tieren auf einem kleinen Hof wenige Meilen von London entfernt. 

Doch auch wenn Harper Sterling nicht mehr aktiv im Dienst war, hatte er immer noch Einfluss, und das hoffte John sich zunutze machen zu können. Osmond konnte nicht tot sein. John weigerte sich, daran zu glauben, mochten auch alle anderen Menschen in seinem Umfeld etwas anderes sagen. Das war etwas, das ihn wachhielt, während das Schiff durch den Ozean pflügte und sie ihrem Ziel näher und näher brachte. Die Ungewissheit, was mit Osmond war. Die Ungewissheit, ob seine Briefe seine Eltern erreichen würden und wie lange es dauern würde, bis er Antwort von ihnen erhielt. Die Ungewissheit, was sie in Indien erwartete und wie lange sie fort sein würden. 

Vielleicht war all das schuld an dem Traum, den er hatte, als sie nur noch zwei Tagesreisen von Kalkutta entfernt waren. Vielleicht war es ein Wink des Schicksals, dass John in dieser Nacht keine Schwierigkeiten hatte, einzuschlafen. Er hörte wie von fern die gedämpfte Unterhaltung der anderen drei, spürte das sanfte Schaukeln des Schiffes und hörte das gelegentliche Stöhnen und Ächzen von Metall. 

 

Als er die Lider das nächste Mal wieder aufschlug, lag er unter einem Baum, dessen kahle Äste sich wie ein Gittergeflecht unter einem strahlend blauen Himmel verwoben. John blinzelte, als ihn ein Sonnenstrahl in die Augen stach, und setzte sich vorsichtig auf. Vor ihm erstreckte sich eine weite, sandige Fläche, auf der es nichts gab, abgesehen von ein paar Felsbrocken, die dieselbe Farbe hatten wie der Boden. Der Baum, unter dem er saß, schien das einzige Zeichen von Leben zu sein, das es hier draußen gab, und John war sich nicht einmal sicher, ob es als Lebenszeichen zählte, denn der Baum sah aus, als sei er seit ewigen Zeiten verdorrt und stände nur noch durch bloße Sturheit aufrecht. 

„Ah, ich hatte mich gefragt, wann du endlich einmal hierbleiben würdest“, erklang eine Stimme links von ihm. 

John zuckte zusammen und wandte den Blick in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Zuerst war die Gestalt, die dort saß, nur undeutlich sichtbar. Ihre Konturen schälten sich allmählich aus dem Spiel aus Licht und Schatten, das die Äste des Baumes über ihren Köpfen erzeugten, als könne sie sich nicht recht entscheiden, ob sie hier hergehörte oder nicht. 

Neben John saß ein Mann, der größer war als er. Seine Haut hatte einen dunklen Bronzeton und ein ausladender Bauch wölbte sich über weiten, dunkelblauen Stoffhosen, die von einem breiten Gürtel aus schwarzem, merkwürdig gemustertem Leder an Ort und Stelle gehalten wurden. Abgesehen davon trug der Mann keine Kleidung. Er hatte eine große, kräftige Nase und große Ohren. Helle Zähne blitzten ihn an, als er ihm lächelnd den Blick zuwandte. Als John nach unten schaute, hielt der Mann ihm eine Hand hin, um ihm aufzuhelfen. Er hatte nicht einmal gesehen, dass der Mann aufgestanden war, aber nun stand er vor ihm und hielt ihm eine Hand hin, auf deren Innenfläche ein merkwürdiges Zeichen aufgemalt war. Für John sah es aus wie ein Dreieck, in dessen Mitte sich ein ihm unbekanntes Schriftzeichen befand. Um das Dreieck herum befand sich eine Blüte mit zehn Blütenblättern und jedes Blütenblatt trug ebenfalls ein Schriftzeichen, dessen Bedeutung sich ihm nicht erschloss. Er nahm die Hand und ließ sich hochziehen. 

„Komm, gehen wir ein Stück“, forderte der Mann ihn auf. 

John konnte nicht anders, als der Mann den Schatten des Baumes verließ, folgte er ihm, als habe er keine eigene Entscheidungsgewalt mehr über seinen Körper. 

„Wer bist du?“, fragte John. 

Der Mann lief weiter, als habe er seine Frage nicht gehört. 

„Das lasse ich dich herausfinden, was hältst du davon?“, fragte er zurück und schaute mit einem halben Lächeln über die Schulter. Irgendetwas an seinem Gesicht war merkwürdig, fand John, aber er konnte nicht benennen, was es war. Es war, als sei das Gesicht des Mannes nicht menschlich, aber wenn er genauer hinschaute, hatte er eindeutig menschliche Züge. Als würde sein Gesicht verschwimmen, wenn John sich nicht darauf konzentrierte. 

„Du musst etwas für mich tun, in Ordnung? Ich brauche deine Hilfe. Du wirst ein paar Leute treffen, bei denen du bleiben musst. Das ist wichtig, hörst du? Bleib bei der Gruppe. Was auch geschieht, bleib bei der Gruppe. Lass dich nicht abwimmeln. Bleibt zusammen. Alles andere wird sich finden.“ 

John blieb stehen und starrte den Mann verwirrt an. „Was zur Hölle soll das alles? Wer bist du? Von welchen Leuten redest du? Bei wem soll ich bleiben?“ 

Der Mann musterte ihn für einen Moment und legte dann den Kopf in den Nacken, um ein tiefes, rollendes Lachen hören zu lassen, in dem ein anderes Geräusch mitschwang, das John nicht benennen konnte. 

„Weißt du, wie schwer es ist, geeignete Leute für diese Aufgabe zu finden?“, fragte der Mann mit einem schelmischen Funkeln in den bernsteinfarbenen Augen, als wolle er John verspotten. 

Er hatte genug. Er würde sicher nicht einem Verrückten hinterherlaufen, der in Rätseln sprach. Als er sich abwenden wollte, packte eine Hand mit erstaunlich festem Griff seinen rechten Unterarm und hielt ihn fest. Als er nach unten schaute, hätte John um ein Haar aufgeschrien. Um sein Handgelenk wand sich eine Schlange, so dick wie sein Oberarm. Sie war von dunkelgrauer Farbe und hatte seltsame horizontale Rillen anstelle der Schuppen, die er erwartet hätte. Als er in das Gesicht des Mannes schaute, hätte er um ein Haar erneut geschrien, denn die Augen, die ihn anblickten, waren nicht mehr bernsteinfarben, wie sie es unter dem Baum gewesen waren. Stattdessen schienen in ihrer dunkelblauen Tiefe ganze Galaxien von Sternen zu rotieren. 

„Lass mich dir einen Vorgeschmack davon geben, was das alles soll“, erwiderte der Mann und die Schlange lockerte ihre Umklammerung. 

Als John einen Schritt nach hinten machte, explodierte die Welt um ihn herum in einem bunten Scherbenregen, um sich Momente darauf funkelnd neu zusammenzusetzen. 

Er stand am Ufer eines Meeres, das sich nach allen Seiten so weit erstreckte, wie das Auge reichte. Er sah das andere Ufer nicht, keine Inseln oder andere Markierungspunkte. Der Boden unter seinen Füßen bestand nicht aus Sand, sondern aus hellen Steinquadern, die zu einer flachen Treppe zusammengesetzt worden waren. Die Treppe führte auf eine Plattform, und als er zwei Stufen hinaufstieg, um zu sehen, was sich dahinter befand, sah er etwas über das tiefe, funkelnde Dunkelblau des Ozeans auf sich zukommen. Es sah aus wie ein kleines Boot. Als es näher ans Ufer kam, konnte er Einzelheiten ausmachen. An Bord des Holzbootes stand eine Kreatur, wie er sie nie zuvor gesehen hatte. Sie musste hoch wie ein Haus sein und mindestens ebenso schwer. Das Tier lief auf vier langen, säulenartigen Beinen, die in großen, runden Füßen endeten. Auf einem kurzen Hals saß ein riesiger, kantiger Kopf mit kleinen, blattförmigen Ohren, und wo John bei jedem anderen Tier eine Nase vermutet hätte, saßen gleich sieben davon, jede davon länger als sein ausgestreckter Arm. Aus seinem Oberkiefer ragten zwei lange, schwertähnliche Zähne, die bleich und sanft im Licht des funkelnden Ozeans schimmerten, ebenso wie die Haut des Tieres, die keinerlei Haare zu besitzen schien und ebenfalls blendend hell war. Die Augen der Kreatur waren bernsteinfarben wie die Augen des Mannes, bevor John ihm ein zweites Mal ins Gesicht geschaut hatte. Das Schiff legte am Steg an und ein Mann ging von Bord. Über seiner Schulter trug er ein langes, dickes Tau, das zu der Kreatur führte und um deren Hals endete. Das Tier lief lammfromm hinter dem Mann her und als es auf gleicher Höhe mit John war und der Blick aus sanften goldenen Augen ihn traf, zersplitterte das Bild und setzte sich neu zusammen. 

Alles um ihn herum verlief plötzlich schneller, die Bilder, die sich ihm offenbarten, zogen immer rascher an ihm vorbei. 

Da war ein Adler, der ein goldenes Ei in seinen Klauen trug, und kurz darauf sah John einen Mann, der die zerbrochenen Hälften des Eis in den Händen hielt und sang. Daraufhin brachen aus den Hälften mehrere Kreaturen hervor, die aussahen wie die, die mit dem Schiff über das Meer gekommen war. Das Bild zersplitterte und setzte sich neu zusammen. 

Plötzlich befand er sich auf einem Schlachtfeld, dessen Boden mit tausenden von Leichen bedeckt war. Er roch den Gestank des Todes nicht, hörte kein Geräusch, sah aber deutlich die nackte, dunkelhäutige Frau, die auf den am Boden liegenden Leichen tanzte, schneller und immer schneller, bis sich eine Leiche vom Boden erhob. Als die Frau das sah, hielt sie inne und lachte mit einem Mal irre, aber John hörte sie nicht. Er sah nur die lange, dunkelrote Zunge, die ihr im Wahnsinn aus dem Mund quoll, bevor das Bild erneut wechselte. 

Diesmal stand er in einer Höhle, die von flackerndem, unstetem Licht erhellt wurde. John gingen die Augen über, als er die Reichtümer entdeckte, die überall in der Höhle aufgebahrt lagen. Ein paar Männer in leuchtend orangefarbenen Tuniken liefen herum. Plötzlich wurde ein bestimmter junger Mann näher herangeholt, der sich bückte und die Hand nach etwas auf dem Boden ausstreckte. Bevor John sehen konnte, dass er etwas aufhob oder worum es sich dabei handelte, wechselte das Bild ein letztes Mal. 

Diesmal stand er auf einer frischen, grünen Wiese. In einiger Entfernung erhob sich das dunkle Band eines Waldes, verhangen von feuchten Nebelschwaden. Es war warm, die Sonne schien, und als er nach rechts schaute, glitzerte das dünne braune Band eines Bachlaufes auf, der sich durch das Gras schlängelte. 

Als John den Blick wieder geradeaus wandte, sah er eine Lehmhütte mit einem Strohdach und einer Tür aus einem schweren, dunkelbraunen Ledervorhang. Aus einem Loch im Dach waberte dichter, weißer Rauch. Vor der Hütte saß ein Junge mit blauer Haut und langen, dunklen Haaren auf dem Boden und spielte mit einigen Kieselsteinen. Er trug bis auf einen Lendenschurz keine Kleidung und wirkte so in sein Spiel vertieft, dass er den anderen Mann erst bemerkte, als dieser unmittelbar vor ihm stand. Der Mann hatte ebenfalls blaue Haut und dunkle Haare wie der Junge. Er war breit gebaut und muskulös und ein merkwürdiges Leuchten verfing sich in seinen Haaren, als trage er den Mond und die Sterne als Haarschmuck. An seiner Seite baumelte ein langer Säbel vom Gürtel seines Lendenschurzes. John stellten sich die Nackenhaare auf, als er sah, wie der Mann den Jungen ansprach, der daraufhin sein Spiel unterbrach und ihn mit ernster Miene ansah. Er schien etwas von dem Kind zu fordern, was dieses ihm nicht geben wollte. Doch die abwehrend ausgestreckten Hände des Winzlings konnten ihn nicht abhalten. Als die Hand des Mannes zum Griff seines Säbels ging, begann John zu rennen. 

Es schien, als wollte eine andere Macht nicht, dass er verhinderte, was dort im Begriff war, zu passieren. Er kam nicht von der Stelle, oder vielleicht entfernte sich das Geschehen auch mit jedem Schritt, den er nach vorn machte, ein Stück weiter von ihm. 

Hilflos musste John mitansehen, wie der Mann den Säbel zur Seite schwang und dem Kind den Kopf glatt von den Schultern schlug. Er wusste, dass er schrie, wie er nie in seinem Leben geschrien hatte, aber aus seinem Mund kam kein Laut. 

 

Er erwachte erst, als ihm jemand eine schallende Ohrfeige versetzte. 

„Komm zu dir, verdammt!“, herrschte ihn eine vertraute Stimme an. Schwach nahm er wahr, dass es um ihn herum laut und unruhig war, als befände sich mindestens ein halbes Dutzend Personen im Raum. 

John riss die Augen auf und holte tief und keuchend Luft wie ein Ertrinkender. 

Als er sich soweit zusammengerissen hatte, dass er seine Umgebung in Augenschein nehmen konnte, sah er, dass er mit seiner Vermutung gar nicht so falsch lag. Charlie und Will beugten sich besorgt über sein Bett, Callan schaute über Charlies Schulter. Alle drei sahen aus, als hätten sie einen Geist gesehen. John blinzelte verwirrt. 

„Gott sei Dank, ich habe gedacht …“, murmelte Charlie und ließ seine Oberarme los, die er scheinbar die ganze Zeit über festgehalten hatte, um ihn wachzurütteln. 

John setzte sich auf und betastete seine Wange, die brannte wie Feuer. 

„Hast du mich geschlagen?“, wollte er erbost wissen. 

Charlie hatte so viel Anstand, schuldbewusst dreinzublicken. „Ja. Du hast plötzlich angefangen zu schreien, als würdest du in Flammen stehen und auf Ansprache und schütteln hast du nicht reagiert, darum …“ 

„Sterling, was ist hier los?“, fragte eine herrische Stimme. 

John reckte den Hals, um zwischen den Köpfen von Charlie und Callan hindurchsehen zu können. Blackburn drängte sich zwischen den Schaulustigen an der Tür hindurch, bis er unmittelbar hinter Johns drei Freunden stand, die ihm respektvoll Platz machten. Er trug einen dunkelblauen Morgenmantel mit seinen eingestickten Initialen über einem Nachthemd und ausgetretenen Filzpantoffeln. 

„Ein Albtraum, nichts weiter, Sir“, erwiderte John und schaute zu Boden, während er sich verlegen den Nacken rieb. Die seltsamen Bilder des Traumes verblassten langsam vor seinem inneren Auge und als er einen Blick zu dem Fenster warf, spiegelte sich das blasse Morgenlicht auf dem stahlgrauen Wasser. Erst jetzt nahm er wahr, dass er am ganzen Körper zitterte und sich fühlte, als hätte er Fieber. 

„Ein Albtraum, so so.“ Blackburn wandte sich kopfschüttelnd wieder ab. „Klang eher, als würde hier drin jemand ermordet werden. Gentlemen, Sie haben es gehört. Sie gehen alle wieder auf Posten oder in Ihre Kojen!“ 

John schaute keinen seiner Kameraden an, als sie die Kajüte wieder verließen. Er konnte ihre mitleidigen, zweifelnden Blicke durch seine Haut schneiden spüren, auch dann, als die Tür längst hinter Blackburn ins Schloss gefallen war und Stille einkehrte. Callan schwang sich wieder auf das Bett über John. Er konnte das Quietschen der Matratze hören, als sein Kamerad sich zur Wand drehte und kurz darauf einschlief. 

„Bist du sicher, dass es dir gut geht?“, fragte Will besorgt. Er war vor Johns Koje in die Hocke gegangen und sah ihn mit prüfendem Blick an, als versuche er, herauszufinden, ob John an einer mysteriösen Krankheit litt, die sie alle befallen könnte, wenn sie nicht achtsam wären. 

John nickte schwach. „Es war ein Traum, nichts weiter. Geht wieder ins Bett.“ 

Er drehte sich auf die andere Seite, um die besorgten Blicke der anderen nicht mehr sehen zu müssen, und schloss die Augen. Es dauerte lange, bis die eindrücklichen Bilder aus seinem Traum verblassten.